Respekt: Die Kurve wird 30 Jahre alt

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet kümmert sich Die Kurve seit drei Jahrzehnten um psychisch kranke Menschen in Tempelhof, unterstützt sie dabei, den Alltag zu bewältigen und gibt ihnen die Möglichkeit zu arbeiten. Jetzt feiert die gemeinnützige Einrichtung ihren 30. Geburtstag.

Tobias Stahl, Mitgründer und Geschäftsführer von "Die Kurve" Geschäftsführer Tobias Stahl ist einer der Gründer der Kurve und noch immer mit Herz und Seele dabei. Als er in den 1980er-Jahren in Tempelhof und Neukölln arbeitete, wurden psychisch kranke Menschen aus dem Kiez wie schon seit Jahrzehnten in die Nervenklinik Spandau eingewiesen. „Da waren sie einfach weg vom Fenster.“ Weg von zu Hause, weg von ihrem gewohnten Alltag und ihrem Umfeld.

Während sich in Italien und England Antipsychiatriebewegungen dafür einsetzten, die Kliniken zu öffnen, habe sich nach der Schockstarre des Nationalsozialismus in der deutschen Psychiatrie erstmal gar nichts getan, sagt Stahl. Erst langsam habe sich auf der politischen Ebene die Erkenntnis durchgesetzt, dass es den Erkrankten in ihrem gewohnten Umfeld besser gehen würde. „Enthospitalisierung hieß das Schlagwort, und dafür brauchte man Angebote.“

Das Angebot einer therapeutischen Wohngemeinschaft entwickelte der Psychologe gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten  aus dem Wenckebach-Krankenhaus und dem Sozialpsychiatrischen Dienstes.

Begonnen hat "Die Kurve" in der Caféteria im Wenckebach-Krankenhaus in Tempelhof

„Wir wussten, dass Psychiatrie und Betreuung anders sein kann.“ Auch bei Renate Blumenthal, die damals im Senat für alle psychiatrischen Angelegenheiten außerhalb der Kliniken zuständig war, stieß das Konzept auf offene Ohren und so begann im Sommer 1986 das Abenteuer „Kurve“.

Die ersten WG-Bewohner zogen in einer großen Wohnung im Cantorsteig zusammen. Gemeinsam und mit Hilfe der Therapeuten lernten sie in das „normale Leben” zurückzufinden. Die Wohnung gibt es noch heute; hinzugekommen sind weitere Angebote.

Mit dieser Zeitungsanzeige hat im Sommer 1986 alles begonnen

„Betreutes Einzelwohnen kann heißen, Frau X ist in der Psychiatrie gewesen oder kommt überden Sozialpsychiatrischen Dienst und muss betreut werden. Dann geht einer von uns dorthin, nimmt Kontakt auf, bietet eine Beziehung an.“ Eine Kombination aus beiden Wohnarten ist das Apartwohnen, also mehrere Einzelwohnungen im selben Haus, auch Betreuungshaus genannt.

„Manche Menschen leben hier schon seit 15 Jahren“, meint Tobias Stahl. Bis heute sei  die Kurve ein kleines, kieznahes Projekt. „Wir haben klein angefangen, wir waren nicht auf Expansion aus.“ Diese Entscheidung gilt bis heute, und so ist der Kontakt sehr eng zwischen denen, die hier arbeiten und jenen, die herkommen, weil sie Unterstützung brauchen.

Seit 30 Jahren existiert die Wohngemeinschaft "Die Kurve" am Cantorsteig

Rund 150 psychisch kranke oder beeinträchtigte Menschen werden zurzeit betreut und auch beim Übergang von Patientenstatus zum Arbeitnehmer begleitet. Etwa 50 Menschen sind in der Kurve beschäftigt, Betroffene und Nichtbetroffene. Neben den Wohnungs- und Beschäftigungsangeboten gibt es auch eine Kontakt- und Beratungsstelle. Sie ist offen für Menschen, die sich gerade in einer Krise befinden. Hier arbeitet ein multikulturelles Team, zu denen auch Menschen gehören, die eigene Erfahrungen mit Verrücktheit und Psychiatrie haben.

Besonders stolz ist Stahl auf das Projekt mit älteren psychisch Kranken, einer Bevölkerungsgruppe, die es lange Zeit nicht gab in Deutschland. „Sie wurden in der Nazizeit vergast. Heute haben wir ein wunderbares Team, das mit den Leuten arbeitet, und es ist erstaunlich zu sehen, wie diese Bewohner flügge werden und neue Dinge ausprobieren.“

Aus dem Verborgenen ins Licht

Im Apartmenthaus leben die Bewohnerinnen und Bewohner in eigenen Wohnungen und sind doch nicht allein

Aktuelle Zahlen sagen aus, dass etwa jeder dritte Erwachsene in Deutschland zeitweilig unter psychischen Störungen leidet. Dazu gehören z.B. Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen und Zwangshandlungen. Als psychische Erkrankungen gelten auch bipolare Störungen (früher: manisch-depressive Erkrankung), Schizophrenie und Psychosen.

Oft sind die Symptome einer Krankheit nicht sichtbar, viele Betroffenen reden auch nicht gerne darüber. Das ist nicht verwunderlich, denn die Vorurteile gegenüber „Verrückten“ sind groß. Tobias Stahl weiß warum: „Was einem fremd ist, davor fürchtet man sich. Damit will man nichts zu tun haben. Das kann man den Leuten nicht vorwerfen. Aber man kann mit ihnen drüber reden und sie darüber aufklären.“

Die Kurve-Mitarbeiterinnen Sylvia Bolz, Marisa Mäckel und Tanja Kadzynski

Dabei kann es so einfach sein, Menschen, die psychisch krank oder beeinträchtigt sind, kennenzulernen und zu verstehen. Denn seit zehn Jahren gibt es das Café Kurve an der Ecke Werderstraße/Friedrich-Wilhelm-Straße. Hier arbeiten auch Sylvia Bolz, Marisa Mäckel und Tanja Kadzynski. Sie strahlen viel Lebensfreude aus, wenn sie hinter dem Tresen stehen, die Gäste bedienen oder die Getränke auf die Terrasse bringen. Anderen ist es lieber, keinen Kundenkontakt zu haben. „Es gibt viele, die schwer beeinträchtigt sind, ohne dass es nach außen hin sichtbar wird“, sagt Tobias Stahl. „Es gibt welche, wo es sichtbar ist, und es gibt die, die die schwierigen Etappen schon weit hinter sich gelassen haben.“

Zu den therapeutischen Angeboten der Einrichtung gehört auch eine Malgruppe

Das Miteinander ist ein großes Plus der Kurve. Gruppenarbeit wird groß geschrieben, denn Gruppen verbinden Menschen, sind das Gegenteil von Isolation und fördern die Gemeinsamkeit. Das Angebot reicht von Gesprächsgruppen über Freizeitaktivitäten, Bewegung, Entspannung und Kreativität. Miteinander bedeutet, dass psychisch kranke Menschen wieder in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integriert werden. Wir sind von der Überzeugung geleitet, dass es nicht zwei Kasten gibt: die, die gesund sind und die, die krank sind“, meint Tobias Stahl. „Das mischt sich. Das kann man nicht klar abgrenzen.“

Im Café Kurve können die scheinbar Gesunden entdecken, dass die scheinbar Kranken gar nicht so anders sind, wie sie befürchtet haben. Denn eins sei allen gemeinsam: „Wir brauchen den menschlichen Respekt, den jeder braucht.“

Dieser Artikel erschien zuerst im Tempelhofer Journal (September 2016)