Als ich 1990 mit meiner Familie beruflich nach Berlin zurückkehrte, zogen wir nach Tempelhof. Nicht unbedingt unsere erste Wahl, denn für uns stand dieser Bezirk für Spießigkeit und Provinzialität.
Wann immer es die Gelegenheit gab, fuhr ich „in die Stadt“: in die Akazienstraße, zum Winterfeldtmarkt, in die Bergmannstraße, zum Kollwitzplatz; hinein in das bunte Treiben, das quirlige Leben, die vielen kleinen Läden. Dutzende von Cafés, Bars und Restaurants, Buchhandlungen, Kinos. Im Sommer flanieren die Menschen über die Bürgersteige, spanische, englische, französische, portugiesische Wortfetzen flirren durch die Luft, wecken die Sehnsucht nach anderen Ländern und Kulturen.
Wie oft habe ich mir gewünscht, dass dieses junge Leben auch nach Tempelhof kommt. Denn auch wenn Berlin immer im Umbruch war, in Tempelhof und anderen Außenbezirken veränderte sich wenig bis nichts.
Seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Kinder sind aus dem Haus, ich habe die Arroganz der jungen Mutter ab- und an Jahren zugelegt. Aus meiner Reserviertheit gegenüber Tempelhof ist Sympathie geworden. 26 Jahre im selben Kiez zu leben hinterlässt seine Spuren, gute Spuren.
Doch nicht nur ich habe mich geändert, auch in Tempelhof tut sich eine Menge: zum Beispiel in der Manfred-von-Richthofen-Straße, die seit ein paar Jahren zu neuem Schwung aufläuft und sich inzwischen mit Schöneberg und Kreuzberg messen kann. Auch in Alt-Tempelhof haben Kinderwagen und Bobbycars den Rollatoren den Rang abgelaufen, das Durchschnittsalter scheint sich gefühlt um 20 Jahre nach unten verschoben zu haben. Und es kommen nicht nur jüngere, sondern auch mehr Leute, sagt die Statistik. Vor allem im Ortsteil Tempelhof steigen die Bevölkerungszahlen schneller als im Berliner Durchschnitt.
Einerseits ist es schön zu sehen, dass Leben in den Bezirk kommt – doch gleichzeitig wächst die Sorge. Ist das der Beginn der Gentrifizierung? Seit 2009 hat sich die durchschnittliche Kaltmiete in Tempelhof um 53 Prozent erhöht, in Mariendorf um mehr als 40 Prozent, und selbst in Marienfelde und Lichtenrade sind die Preise um mehr als ein Viertel gestiegen. Viele Geschäftsimmobilien entlang des Tempelhofer Damms gehören Nichtberliner Investoren. Denen geht es möglicherweise mehr um Rendite als um gutes Miteinander und Atmosphäre.
Ich denke, es ist an der Zeit, dafür zu sorgen, dass Tempelhof ein lebendiger Ort bleibt. Mit Wohnungsmieten, die sich nicht an München oder Düsseldorf orientieren sondern an Berliner Gehältern. Mit Kinos und Kleinkunstprojekten in der Nachbarschaft. Mit Gemeinschaft und Gemeinwesen für alle, die hier gerne leben. Für Jung und Alt. Damit alle sagen können: „Tempelhof? Find ick jut.“
Dieser Beitrag erschien zuerst im Tempelhofer Journal (März 2016)